Baba Amadou lebt seit 2016 bei Manfred und Anette Stalz in Lotte. Mit ihrer Unterstützung hat er jetzt seine Abschlussprüfung zum Holzbearbeitungsmechaniker bestanden. Foto: Anke Beimdiek

02. Mai 2025

Ohne Schulbildung zur FachkraftBaba Amadou lebt bei Familie Stalz und hat mit Hilfe seiner Pflegeeltern eine Ausbildung absolviert

WESTERKAPPELN/LOTTE. Vor dem Berufskolleg ist er nie in einer Schule gewesen. Hat als Kind nicht lesen, schreiben und rechnen gelernt. Als Baba Amadou mit 16 Jahren nach Deutschland kam, war er Analphabet und sprach kein Wort Deutsch. Jetzt, gut fünfeinhalb Jahre später, ist er eine gefragte Fachkraft in der Holzindustrie – mit abgeschlossener Berufsausbildung und einem unbefristeten Arbeitsvertrag bei Poppensieker & Derix in Velpe.

„Ohne die beiden hätte ich das nicht geschafft“, sagt der 22-Jährige, der sich vor sechs Jahren von Ghana auf den Weg nach Deutschland machte. „Die beiden“, das sind Anette und Manfred Stalz. Seit Mai 2016 sind sie seine Pflegeeltern. Dass er vor wenigen Wochen seinen Abschluss als Holzbearbeitungsmechaniker bei der IHK schaffte, habe er vor allem ihnen zu verdanken. Sie brachten ihm nicht nur Deutsch, Lesen und Schreiben bei. „Sie haben mich immer wieder motiviert und aufgebaut“, erzählt der 22-Jährige. Sie zitterten mit ihm, als die Ergebnisse der Prüfung im Internet bekannt gegeben wurden. Und sie feierten gemeinsam, als er den letzten Theorieteil bestand – so wie es Eltern mit ihren Kindern tun. „Ich habe hier eine Familie gefunden“, sagt Baba Amadou. Seine leibliche Mutter ist früh gestorben, den Vater hat er nie kennengelernt. Für Anette und Manfred Stalz, die schon zwei erwachsene Töchter haben, ist er ihr drittes Kind.

»Schule oder Fußball – das war mein Ziel.«
Baba Amadou

Als im Herbst 2015 die Bilder von den Flüchtlingsströmen um die Welt gehen, ist Manfred Stalz seit wenigen Monaten Leiter der Gesamtschule Lotte-Westerkappeln. Anette Stalz gibt ihre Arbeit als Sozialpädagogin in Bielefeld auf, um ihrem Mann nach Lotte zu folgen. „Da hab ich gedacht, eigentlich könnten wir einen Flüchtling aufnehmen“, erzählt sie. Sie ruft ihren Mann in der Schule an. „Und er hat sofort ,ja‘ gesagt.“

Rund 7500 Kilometer entfernt in Ghana begibt sich Baba Amadou auf eine gefährliche Reise. Als Kind hat er im Radio einen Bericht über „Germany“ gehört und beschlossen, irgendwann dorthin zu gehen. In Deutschland könnte er eine bessere Zukunft finden, hofft er: „Schule oder Fußball – das war mein Ziel.“ Als er 16 Jahre alt ist, steigt er nachts aus dem Fenster und läuft los. Seiner Oma, bei der er aufgewachsen ist, sagt er nichts. Er durchquert die Wüste, kommt nach mehreren Monaten in Libyen an und wagt sich mit rund 90 anderen Flüchtlingen im Schlauchboot auf das Mittelmeer. Nach vielen Stunden auf dem Wasser werden sie gerettet und nach Italien gebracht. Eine Frau schenkt ihm dort das Geld für das Bahnticket nach Deutschland.

Dass es schwierig sein kann, jemanden aus einem fremden Kulturkreis aufzunehmen, der zudem traumatische Fluchterfahrungen hinter sich hat, darüber macht sich Familie Stalz von Anfang an keine Illusionen. „Wir haben uns intensiv vom ,Netzwerk Pflegefamilien‘ beraten lassen“, sagt Anette Stalz, „das war eine große Hilfe.“ Damit Integration auch im Kleinen funktioniert, sei „von beiden Seiten enorm viel Toleranz und Entgegenkommen nötig“.

Im Frühjahr 2016 kommt dann der Anruf: In der York-Kaserne in Münster lebt ein junger Ghanaer, den Familie Stalz aufnehmen kann. „Vom ersten Moment an stimmte die Chemie“, erzählt Anette Stalz. Zuerst besucht Baba Amadou die Familie am Wochenende. Am 20. Mai 2016 zieht er nach Lotte.

Dass er dort lange bleiben kann, glauben die Behörden nicht. „Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie ihn in einem halben Jahr zur Abschiebung zum Flughafen fahren müssen“, bekommt seine Pflegemutter zu hören.

Ghana gilt als sicheres Herkunftsland. Das Land ist bitterarm, aber Krieg und Verfolgung drohen nicht. Einen Asylantrag hat der 22-Jährige auf Anraten eines Richters nicht gestellt. „Das wäre aussichtslos gewesen und hätte nur dazu geführt, dass Baba nicht arbeiten darf“, sagt Manfred Stalz. Ausbildung und Berufstätigkeit sind für den jungen Ghanaer die einzige Chance, in Deutschland zu bleiben.

Aber wie findet man einen Ausbildungsplatz für jemanden ohne formale Schulbildung? Als unbegleiteter Minderjähriger genießt Baba Amadou zunächst Schutz. „Seitdem er volljährig ist, haben wir aber diesen Druck, dass er eine Ausbildungsstelle haben muss“, sagt Anette Stalz. Ihn für die Arbeit im Betrieb und die Berufsschule fit zu machen, „das war fünf Jahre lang mein Job.“

Zuerst bekommt der 22-Jährige im Garten- und Landschaftsbau eine Chance, aber die Arbeit gefällt ihm nicht. Dann macht er bei Poppensieker & Derix ein Praktikum. Wenig später beginnt er dort die Ausbildung zum Holzbearbeitungsmechaniker. Ein Job, bei dem man mit großen Maschinen umgeht und mathematisches und technisches Wissen braucht.

In der Berufsschule in Bad Wildungen weiß man zuerst nicht, wie man mit dem neuen Schüler umgehen soll. Anette Stalz begleitet Baba deshalb zum Blockunterricht und versucht, den schwierigen Stoff in möglichst einfache Worte zu übersetzen. Viel Unterstützung bekommt der 22-Jährige auch von seinem Ausbildungsbetrieb.

Im dritten Anlauf hat er nun vor wenigen Wochen den letzten Teil der theoretischen Prüfung geschafft. Zwar brauchte er vier statt drei Jahre für die Ausbildung. Andere, die mit ihm begonnen hatten, brachen die Ausbildung frühzeitig ab. Mit dem festen Arbeitsvertrag in der Tasche hofft er nun, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Dann könnte er endlich seine Oma in Ghana besuchen und trotzdem nach Deutschland zurückkehren.

Von Anke Beimdiek